Abiturrede von Januar 2007

von | 14.01.2007

Auf der Abiturfeier am 12. Januar 2007 hielt der Schulleiter Bernhard Nadorf die folgende Festansprache:

Liebe Abiturienten, Liebe Freunde und Angehörige unserer Studierenden, Liebe Kolleginnen und Kollegen,

im Namen der Schulgemeinde des Nikolaus-Groß-Abendgymnasiums begrüße ich Sie sehr herzlich hier in der Aula unserer Schule. Am Beginn dieses Jahres haben wir einen Grund gemeinsam zu danken – dies haben wir in unserem Gottesdienst soeben getan – und wir haben einen Grund zur Feier und zur persönlichen Gratulation: 35 Studierende erhalten heute das Zeugnis der allgemeinen Hochschulreife. Stellvertretend für alle Studierenden und Lehrenden des Abendgymnasiums und im Auftrag des Bischofs von Essen, Dr. Felix Genn, der gestern unsere Schule besucht hat, gratuliere ich Ihnen, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, von ganzem Herzen zu Ihrer bestandenen Reifeprüfung und wünsche Ihnen Alles Gute, Gesundheit und Gottes Segen für die Jahre, die vor Ihnen liegen – in der Hochschule, im Beruf oder wohin auch immer Sie Ihr persönlicher Weg führt.

HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH!

„Endlich hatte ich das Abiturzeugnis und damit die Hochschulreife. Was für ein Gefühl! Die Welt stand mir offen.“ So beschreibt der ehemalige Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Gerhard Schröder, in seinen Erinnerungen den Augenblick, als er nach dem Besuch einer Abendrealschule und eines Abendgymnasiums im Jahre 1966 das Zeugnis der allgemeinen Hochschulreife in Empfang nehmen konnte. Viele von Ihnen können dieses Gefühl heute nachvollziehen, auch wenn sie nicht den gleichen Lebensweg hinter sich haben. Gerhard Schröder wurde im Jahre 1944 am Ende des Zweiten Weltkrieges kurz nach dem Tod seines Vaters geboren, und erlebte die Not der Nachkriegszeit in einem Behelfsheim an einer Eckfahne des Fußballplatzes in Bexten in der Nähe von Bielefeld. Seine Mutter hatte trotz der Empfehlung seines Grundschullehrers nicht das Geld, ihren Sohn auf eine weiterführende Schule zu schicken, und so absolvierte er eine Lehre als Einzelhandelskaufmann in Lemgo, um dann anschließend in einer Eisenwarenhandlung in Göttingen zu arbeiten. Zeit seines Lebens hat ihn und viele Studierende ein Grundgefühl begleitet, das man auch als den psychologischen Motor der Weiterbildung bezeichnen könnte: „Ich kann mehr, als mir andere zutrauen und ich möchte zeigen, was in mir steckt.“ Und deshalb ist der Tag der Abiturprüfung in einer Schule des Zweiten Bildungsweges doch ein besonderer Tag; denn Sie haben sich und anderen bewiesen, was Sie wirklich können, wenn Sie in einem höheren Alter einen Bildungsabschluss nachholen. Sie haben diese Schule aus eigenem Entschluss besucht und viele Belastungen in Beruf und Familie auf sich genommen, um dieses Ziel zu erreichen. Die Fähigkeiten und die Tugenden, die Sie sich in harter Arbeit an dieser Schule erworben haben, werden Sie auch auf Ihrem weiteren Lebensweg begleiten und ihnen helfen, Ihre Träume zu realisieren: Zeiteffizienz, Persönliche Disziplin in der Bewältigung unterschiedlicher Belastungssituationen, Kooperationsfähigkeit im Team der Klasse und Solidarität als Grundlage für die Überwindung schwieriger Lern- und Lebenssituationen.

Szenenwechsel vom Berliner Kanzleramt auf die Zechen des Ruhrgebietes:

Das Nikolaus-Groß-Abendgymnasium ist – liebe Festgemeinde – die einzige Schule im Ruhrgebiet und darüber hinaus in der Bundesrepublik Deutschland, die den Namen eines Bergarbeiters trägt. In Essen und im Ruhrgebiet insgesamt gibt es vielfältige Zeichen der Erinnerung an diesen Mann und an seine Frau Elisabeth.: Wenn Sie im Stadtzentrum von Essen sind, nehmen Sie sich nach Ihrem Einkaufsbummel Zeit für einen Moment der Stille und besuchen Sie einmal den tausendjährigen Dom in der City an der Kettwiger Straße. Auf der linken Seite nach dem Eingang finden Sie die Adveniatkrypta mit dem Grab des ersten Ruhrbischofs, Dr. Franz Hengsbach, der diese Schule am 01. Oktober 1959 gegründet hat. Wenn Sie dann weiter zum Altar gehen, kommen Sie auf der linken Seite zur Goldenen Madonna, dem Wahrzeichen des Bistums und der Stadt Essen. Auf der anderen Seite hat das Bistum im Jahre 2003 eine Kapelle im Gedenken an Nikolaus Groß und an alle Männer und Frauen des Widerstandes eingerichtet.

Auch Nikolaus Groß hatte – wie viele andere aus seiner Generation, die um die Jahrhundertwende in Deutschland geboren wurden – den Traum von einem besseren Leben. Zu allen Zeiten waren Bildung und Weiterbildung die Voraussetzung, dieses Ziel zu erreichen. Und so besuchte er am Ende des ersten Weltkrieges, als es noch keine Abendgymnasien gab, Abendkurse des Volksvereins für das katholische Deutschland, um sich auf eine politische und gewerkschaftliche Tätigkeit vorzubereiten. Auch nach dem Abschluss seiner Weiterbildung setzte er sich für die Interessen der Arbeiter ein, im Engagement für die Verbesserung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lage. Unbeirrbar verteidigte er die Menschenwürde gegen die totalitäre Bedrohung des Nationalsozialismus und wurde am 23. Januar 1945 hingerichtet.

Nikolaus Groß ist ein Beispiel für Menschen, die ihre Weiterbildung nicht alleine am „Shareholder Value“ ausrichten, sondern ihre intellektuellen Fähigkeiten nutzen, um sich in Solidarität und Compassion für ihre Mitmenschen einzusetzen und in schwerer Zeit mit hoher Zivilcourage für die Werte einzutreten, die ihnen persönlich wichtig geworden sind – und auch darin kann er für Sie und für die Studierenden dieser Schule ein persönliches Vorbild sein.

Liebe Festgemeinde: Wer die Zeugnisse unserer Abiturienten betrachtet, wird feststellen, dass nur in den seltensten Fällen der Ort der Geburt und der Schulort Essen übereinstimmen. Das Nikolaus-Groß-Abendgymnasium ist eine Schule im Herzen des Ruhrgebietes und wie diese Region insgesamt von der Migration geprägt. Unsere Studierenden stammen aus dem Ruhrgebiet, Deutschland, aus dem Iran und aus Polen ihre Wiegen standen in Herdecke, Münster, Berlin, Oppeln, Stettin und Teheran. Mit ihren unterschiedlichen und facettenreichen Biographien bilden sie einen Regenbogen, in dem jede Farbe eine unverwechselbare Identität hat. Der Regenbogen ist dann ein Zeichen der Hoffnung und Zuversicht, wenn es uns gelingt, Fremde durch Nähe und Ausgrenzung durch Integration zu überwinden. „Die Kirche kennt keine Fremden“ – so ist der Titel einer gemeinsamen Denkschrift der katholischen und evangelischen Kirche Deutschlands. Und Papst Benedikt XVI sagt in seiner Ansprache zum Welttag der Migranten und Flüchtlinge im Jahre 2007: „Wenn man der immigrierten Familie keine wirkliche Möglichkeit zur Integration und zur Beteiligung zusichert, lässt sich für sie eine harmonische Entwicklung kaum voraussehen.“ Und er fordert daher die kirchlichen Gemeinschaften auf, „die öffentliche Meinung für die Nöte und Probleme ebenso wie für das positive Potential der Migrantenfamilien zu sensibilisieren.“

Es ist daher ein integrativer Bestandteil unserer christlichen Grundüberzeugung, dass wir Menschen, die als Fremde zu uns kommen, als Gäste aufnehmen und ihnen die Möglichkeit eröffnen, sich durch den Erwerb von schulischen Qualifikationen in diese Gesellschaft zu integrieren.

Als Ehemann einer Engländerin mit irischen Eltern, die hier an dieser Schule vor 23 Jahren das Abitur bestanden hat, weiß ich um die Schwierigkeiten der Studierenden, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Ihnen möchte ich daher heute besonders herzlich gratulieren. Die Einstellung unserer Schulgemeinde zum Thema „Rassismus“ ist am 07. Oktober 2001 besonders eindrucksvoll durch den verstorbenen Papst Johannes Paul II formuliert worden,

„Blessed Nikolaus Gross was an exemplary father, a miner and a journalist, who struggled to the point of martyrdom to defend the faith and to resist totalitarian and racist oppression. Let us entrust to his intercession the welfare of the family, the world of labour, those who work in the media and all who are committed to overcoming every form of racism.“

„Der Selige Nikolaus Gross war ein beispielhafter Vater, ein Bergmann und ein Journalist, der bis zum Martyrium dafür kämpfte, den Glauben zu verteidigen und totalitärer und rassistischer Unterdrückung zu widerstehen. Lasst uns seiner Fürsprache anvertrauen die Wohlfahrt der Familie, die Welt der Arbeit, diejenigen, die in den Medien arbeiten und alle, die sich dafür einsetzen, jede Form des Rassismus zu überwinden.“

Das Nikolaus-Groß-Abendgymnasium ist ein katholisches Weiterbildungskolleg, das sich auf der Grundlage christlicher Grundwerte für einen Dialog der Kulturen, Nationalitäten und Religionsgemeinschaften einsetzt. Wir verbinden damit die Hoffnung, dass alle diejenigen, die an dieser Schule Toleranz, Offenheit und Dialogfähigkeit erfahren haben, diese Werte auch in ihre Familien und Religionsgemeinschaften weitergeben.

Dies ist die Voraussetzung für die Bewahrung des innergesellschaftlichen Friedens – hier bei uns im Ruhrgebiet und weltweit.

Liebe Studierende, Liebe Lehrende, Jede Schule, die ihre Abiturienten entlässt, hat den Wunsch, dass dieser Tag nicht das Ende der Beziehung ist – weder unter den Studierenden noch zwischen Studierenden und Lehrenden. Uns als Lehrenden sind Sie in diesen Jahren sehr ans Herz gewachsen. Das merkt man nicht nur daran, dass die Lehrer unserer Schule unsere Studierenden noch während der Weihnachtsferien auf die Ergänzungsprüfungen vorbereitet haben, auch der ein oder andere Kollege kommt nach der Abschiedsfeier in das Lehrerzimmer wie ein Vater oder eine Mutter, deren Kinder gerade das Haus verlassen haben, um eine Familie zu gründen…

Ja, liebe Abiturienten, Sie werden uns fehlen; um aber für Sie und für uns diesen Abschiedsschmerz zu lindern, haben wir vor 40 Jahren einen Verein gegründet und wir laden Sie mit einer Information über den Förderkreis unserer Schule sehr herzlich ein, diesem Verein, der Ehemalige, Studierende und Lehrende miteinander verbindet, beizutreten.

Ich möchte Sie liebe Abiturienten, die heute zu Ehemaligen werden, ermutigen, nicht nur Ihre intellektuellen Fähigkeiten, die Sie an dieser Schule erworben haben, zu entfalten, sondern sich mit Selbstbewusstsein, Überzeugung und Zivilcourage für die Werte einzusetzen, die Ihnen und dieser Schule wichtig sind, und unbeirrt den Weg gehen, den Sie als den für Sie richtigen erkannt haben – sowohl in der Hochschule als auch im Beruf.

Und so wünsche ich Ihnen, Ihren Angehörigen und Freunden und Ihnen, Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sie unsere Studierenden auf diesem Weg begleitet haben, einen schönen Abend in unserem Hause, ein gutes und gesundes neues Jahr 2007 und Gottes Segen auf allen Ihren Wegen.