Abiturientinnenrede im Juni 2010

von | 20.06.2010

Auf der Abiturfeier hielt die Abiturientin Farial Tamiz die folgende Rede:

Frau Janus-Kiwic, unsere Französisch-Lehrerin sagte mir bei der Übergabe meiner Französisch-Bescheinigung:

„Oh, Sie haben einen langen Weg gemacht, um diese Bescheinigung zu empfangen.“

Ich hatte einen Kloß im Hals, mir schossen die Gedanken durch den Kopf, ich konnte jedoch nichts darauf erwidern.

Ja, sie hatte Recht!!!

Geboren in Afghanistan, geflüchtet vor den Sowjets mit der Familie in den Westen mit der Hoffnung auf ein besseres Leben, habe ich viele Stationen durchlaufen. Vor allem schulisch.

Ich bin in Brüssel zur Schule gegangen, ein Jahr in Bremen, in Hamburg habe ich innerhalb von 5 Jahren sogar zwei verschiedene Schulen besucht. Auf dem Lohmühlen-Gymnasium in St. Pauli war ich meinem Traum schon ganz nah. Dann Kulturschock in der 8. Klasse. Berufsbedingter Umzug nach Rheinhessen, Weindorf 300 Einwohner. Zwei Monate Gauß-Gymnasium Worms und dann wen wundert‘s Abstieg. Abschluss Realschule Osthofen 1993.

Aus der Traum von Abitur, die Seifenblase Jura zerplatzte und die Welt vor Fundamentalisten sollte Jemand anderer retten.

dachte ich!!!! damals naive Jugendliche….

Der liebe Gott hatte mir ein anderes Schicksal vorbestimmt: Hochzeit, Ausbildung zur Rechtsanwalts- u. Notarfachangestellte, Berufserfahrung und Kinder – zwei Stück, Schön —— und nun????

Nach so vielen Schulbesuchen sollte man die Nase voll haben von der Schule. Aber nein!!!

Frau Tamiz will es noch einmal wissen und wird mit Sohn Nr. 1 gleichzeitig eingeschult, wie es spöttisch heißt, statt sich, wie es sich für eine afghanische Frau gehört, liebevoll um die Familie zu kümmern.

So war es im Sommer 2007, als unser Schulleiter Herr Nadorf seine Willkommensrede hielt.

Nun 3 Jahre später sind die Spötter zu Bewunderern geworden. 3 Jahre Zeitvertreib in der Schule werden plötzlich als unglaubliche Leistung anerkannt. Das Wissen über Kant, Freud, Darwin und Adam Smith imponiert auf einmal sogar Intellektuelle. Man selbst ist begeistert, endlich Gleichgesinnte, tolerante Menschen um sich aus verschiedenen Nationen u. Kulturen mit jeweils anderen Hintergründen Ohne Vorurteile mit einem gemeinsamen Ziel: das Abitur „Der Schlüssel zur einzig wahren Freiheit“

Was mir damals als Fluch erschien, sollte ein Segen sein. Eben diesen vielen Umzügen habe ich meine Erfahrungen zu verdanken. Auf meinem Weg sind mir viele unterschiedliche Menschen begegnet. Freunde, Lehrer, Vorbilder, Mitschüler und ihre Eltern, angenehme und weniger angenehme Zeitgenossen. Von allen besuchten Schulen war das Nikolaus-Groß Abendgymnasium das Beste, was mir passiert ist.

Bei jedem der Lehrkräfte kam die Leidenschaft für das jeweilige Fach deutlich zum Vorschein und diese Begeisterung steckte an:

Es war zum Schmunzeln, wie Herr Rittmeier, ganz in seinem Element, am Bach Wasserproben für den Bio-Unterrichtentnahm. Herr Hardegens Leidenschaft für Gedichte ließ uns oftmals aufhorchen. Herr Meyer wurde nicht müde uns Adam Smith ans Herz zu legen, was mir jetzt bei der Lektüre von „Die verblödete Republik“ von Thomas Wieczorek wieder zugutekommt. Wann immer ich den Begriff „american dream“ höre, muss ich an Herrn Schön denken. Erkenntnisreich waren auch die Diskussionen mit Herrn Holtmann über die NS-Zeit und die Schuldfrage für die 3. Generation.

Sie alle lehrten uns nicht nur Fachliches, sie waren uns auch Vorbilder und Wegweiser in weltlichen Fragen und Wegbereiter für die Zukunft.

Jetzt haben wir das Abitur geschafft und jedes Mal, wenn wir an diese drei Jahre denken, werden wir auch an die Personen denken, die unmittelbar damit verbunden sind: Unsere Fachlehrer, und natürlich unsere Mitstudierenden, von denen hoffentlich einige noch eine Zeitlang unsere Weggefährten bleiben werden.

Als 2007 Herr Nadorf mich darauf hinwies, dass ich am katholischen Religions-unterricht teilnehmen müsste, dachte ich: Naja, solange ich meinen Glauben nicht wechseln muss, ist das ok.

2010 kann ich sagen, dass dieser Unterricht eine wahre Bereicherung war. Frau Schmidts Unterricht ist absolut einzigartig und vorbildlich. Sie hat meinen dürftigen Wissensstand über die Wurzel der 3 abrahmistischen Religionen; Judentum, Christentum und Islam erweitert. Sie hat mir Lust gemacht auf mehr. Nun lese ich den Koran analytisch. Die Verbreitung dieses Wissens könnte den Missbrauch der Religion für politische oder kapitalistische Zwecke im Keim ersticken.

Der Traum vom Westen hat sich erfüllt. Wir sind Teil von Ruhr 2010.

Können wir uns nun zurücklehnen in der Spaß- und Wegwerfgesellschaft???

Keiner von uns hat das Abitur aus Langeweile oder den Eltern zuliebe gemacht. Jeden von uns treibt eine andere Motivation.

Mancher aus Bildung der Bildung wegen. Mancher aus Liebe und Leidenschaft zur Schrift und Sprache oder Zahlen und Kurven, und mancher aus Hoffnung auf eine bessere finanzielle Zukunft.

Wie dem auch sei, Wissen vermittelt innerliches Selbstbewusstsein und dieses Selbstbewusstsein führt bestenfalls zur freien und differenzierten Meinungsäußerung.

Mein Vater sagt immer: Wir leben hier von dem Blut, dass unsere Landsleute in Afghanistan vergießen. Wir sollten uns dieser Verantwortung bewusst sein. Immer !!!

Als Mahnmal dient mir das weltberühmte Bild des afghanischen Mädchens auf dem Cover des National Geographics mit den unvergesslichsten grünen Augen. Dieses Mädchen hätte ich sein können.

Liebe Frau Janus-Kiwic, heute möchte ich Ihnen antworten: Der Weg, den ich hinter mir habe, war lang, aber der Weg, den ich vor mir habe ist, wenn Gott will noch länger.

Danke allen Beteiligten, dass ich das Privileg genossen habe, Schülerin dieser Schule sein zu dürfen.

18. Juni 2010

Farial Tamiz