Abiturrede Januar 2006

von | 15.01.2006

Auf der Abiturfeier hielt der Schulleiter Bernhard Nadorf die folgende Rede:

Liebe Abiturienten, Liebe Freunde und Angehörige unserer Studierenden, Liebe Kolleginnen und Kollegen,

im Namen der Schulgemeinde des Nikolaus-Groß-Abendgymnasiums begrüße ich Sie sehr herzlich hier in der Aula unserer Schule. Am Beginn dieses Jahres haben wir einen Grund gemeinsam zu danken – dies haben wir in unserem Gottesdienst soeben getan – und wir haben einen Grund zur Feier und zur persönlichen Gratulation: 32 Studierende erhalten heute das Zeugnis der allgemeinen Hochschulreife. Stellvertretend für alle Studierenden und Lehrenden des Abendgymnasiums und im Auftrag des Bischofs von Essen, Dr. Felix Genn, gratuliere ich Ihnen, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, von ganzem Herzen zu Ihrer bestandenen Reifeprüfung und wünsche Ihnen Alles Gute, Gesundheit und Gottes Segen für die Jahre, die vor Ihnen liegen – in der Hochschule, im Beruf oder wohin auch immer Sie Ihr persönlicher Weg führt.

HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH!

Jeder Jahresbeginn – liebe Festgemeinde – steht im Zeichen guter Vorsätze. So hat unsere neue Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel, uns, ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger aufgerufen, neue Ideen zu entwickeln und damit einen persönlichen Beitrag zur Zukunftssicherung unserer Gesellschaft zu leisten.

Deutschland: Das Land der Ideen und unser Bischof würde nach der Erfahrung des Weltjugendtages ergänzen: Die katholische Kirche in Deutschland, die christlichen Kirchen als ein Ort, an dem junge Menschen durch ihre Ideen die Zukunft des Christentums in dieser Region mitgestalten und weiterentwickeln.

Menschen, die alte Wege verlassen, weil sie neue Ideen und große Träume haben, müssen sich häufig mit Vorurteilen auseinandersetzen. Sie werden als Esoteriker oder Spinner bezeichnet, manche rufen nach den Männern im weißen Kittel, weil sie diese Menschen als Gefahr für sich selbst und für andere betrachten.

Mancher, der die Studierenden und die Lehrenden dieser Schule näher unter die Lupe nimmt, könnte genauso reagieren. Wie kommt jemand auf die Idee, nach dem Abschluss einer beruflichen Ausbildung im Alter von 20, 30 oder 40 Jahren noch einmal die Schulbank zu drücken und – in der Kombination von Beruf und Schule – eine 60 bis 70 Stunden Woche in Kauf zu nehmen, um das Abitur nachzuholen. Ja, und dann gibt es noch einige, die den Studiengang sogar parallel zu ihrem Schichtdienst morgens und abends organisieren. Da mischen sich in der Reaktion der Öffentlichkeit Bewunderung und Unverständnis.

Ja, und die Lehrer: Die müssen ja vormittags und abends parallel an jedem Tag unterrichten – wie soll denn das funktionieren?

Als wir – liebe Festgemeinde – im Februar 1996, also vor jetzt nunmehr 10 Jahren die Idee hatten, dieses Zeitsystem zu entwickeln und in die Praxis umzusetzen, haben viele ähnlich reagiert, und genauso mag es auch Ihnen ergangen sein, als Sie vor 2 oder 3 Jahren den Entschluss gefasst haben, diesen Zweiten Bildungsweg zu gehen, als Hausfrau im Vormittagsunterricht, als Berufstätiger oder Arbeitssuchender im Abendkurs oder als Schichtarbeiter im Wechselunterricht des Nikolaus-Groß-Abendgymnasiums.

Manche Ihrer Freunde oder auch Angehörigen werden diese Entscheidung nicht verstanden haben. Trotz dieser Hinweise und trotz der Gefahr des Scheiterns sind Sie das Risiko eingegangen, diesen Weg zu beschreiten – genauso wie wir, als wir vor genau 10 Jahren den Schichtunterricht eingerichtet haben.

Und so feiern wir heute ein gemeinsames Jubiläum und wir feiern gemeinsam den Erfolg, denn das, was damals so unwahrscheinlich und unerreichbar schien – heute ist es Realität.

Als ich vor 11 Jahren die Leitung dieser Schule übernommen habe, war mein Leitwort ein Slogan, den die Grünen für den Bundestagswahlkampf 1994 gewählt hatten: „Wenn wir nichts verändern, bleibt nichts wie es ist.“

Wir müssen die Paralysis der Handlungsunfähigkeit gerade im Bereich der Bildung überwinden und neue Wege beschreiten, um das Bestehende zu bewahren und zu erhalten. Unterrichtsangebote im Bereich der Weiterbildung müssen sich an den zeitlichen Möglichkeiten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer orientieren, d.h. konkret: Der Mensch steht im Mittelpunkt. Seine Träume und Zukunftsperspektiven bilden die Grundlage und den Maßstab schulischer Planung. Dies wird für mich personal sichtbar, wenn ich mich nach einer Abiturprüfung mit Studierenden unterhalte, die mir versichern, dass sie ohne diese Schule mit diesem Zeitsystem keine Chance gehabt hätten, das Abitur im Zweiten Bildungsweg zu erwerben.

Aber natürlich ist das Dienstleistungsangebot im Bereich der Weiterbildung unvollständig, solange nicht auch die Hochschulen Zeitangebote im Abend- oder Schichtbereich einrichten, die auch von unseren Studierenden nach dem Abitur wahrgenommen werden können.

Wir brauchen in diesem Lande Abenduniversitäten und Schichtuniversitäten.

Ein Land, das nach einer Statistik der OECD immer noch zu wenig akademische Berufe produziert und Menschen aus bestimmten Stadtteilen oder Menschen mit Migrationshintergrund massiv benachteiligt, muss durch eine zeitliche Flexibilisierung des Bildungsangebotes vom 1. Semester der Weiterbildungsschule bis zum letzten Semester der Hochschule alle verfügbaren Bildungsreserven mobilisieren, wenn es seinen Wohlstand dauerhaft sichern will.

Das Abendgymnasium zieht Menschen an, die nur deshalb verrückt in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes sind, weil andere sie so und ihren persönlichen Normalzustand anders definieren. Weil sie aber mit der lebenslangen Bildung ernst machen, sind sie ihrer Zeit weit voraus.

Menschen, die neue Wege beschreiten und den Mut haben, gegen den Strom zu schwimmen, haben ein großes Vorbild und einen mächtigen Fürsprecher in Nikolaus Groß, dem Namenspatron unserer Schule, dessen Todestag sich in diesen Tagen jährt. Ein Bergarbeiter aus dem Ruhrgebiet, der sich durch den Besuch von Abendkursen während des ersten Weltkrieges weiterbildet und am Ende der Weimarer Republik nein sagt, als alle anderen laut ja schreien – auf der Grundlage einer christlichen Glaubensüberzeugung, die er auch im Angesicht des Galgens nicht verleugnet.

Liebe Festgemeinde: Das Nikolaus-Groß-Abendgymnasium ist eine Schule in der Trägerschaft des Bistums Essen. Unser Bistum steht – dies haben Sie sicherlich aus der Presse erfahren – vor großen Problemen und vor schwierigen Herausforderungen. Am Sonntag wird unser Bischof in einem Hirtenwort bekannt geben, welche Kirchen geschlossen werden müssen, welche Gemeinden bleiben. Was hat dies mit dieser Schule und mit ihren Studierenden zu tun? Sehr viel! Das Nikolaus-Groß-Abendgymnasium wurde als Bischöfliches Abendgymnasium im Jahre 1959 vom ersten Ruhrbischof Franz Kardinal Hengsbach gegründet. Seine Studierenden und Lehrenden stehen daher – ganz in der Tradition ihres Namengebers und der katholischen Soziallehre – in Compassion und in Solidarität zu ihrem Bischof und zu allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Bistum.

Der Bischof von Essen hat auch in einer Phase, die durch massive Personalreduzierungen und Einsparungen gekennzeichnet ist, immer wieder – nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem eindrucksvollen Weltjugendtag im letzten Jahr – deutlich gemacht, dass er auf die Innovationskraft junger Menschen vertraut und von den Lehrerinnen und Lehrern an den Schulen in der Trägerschaft des Bistums erwartet, dass sie – zeichenhaft in ihrem Bereich – die Botschaft Jesu Christi personal glaubwürdig weitergeben.

Daran werden wir als katholische Christen im Ruhrgebiet zu Recht gemessen.

Es ist schon bemerkenswert: Die Bereitschaft zur Veränderung und zum Wandel entsteht in der Zeit der Krise: bei Studierenden, die sich weiterbilden, bei Schulen, die neue Zeitsysteme einrichten, in einem Bistum, das abbaut, aber auch aufbaut, in der Bundesrepublik Deutschland, deren Kanzlerin uns auffordert, neue Ideen zu entwickeln, um die Arbeitslosigkeit zu überwinden.

Im Chinesischen hat das Wort Krise daher auch zwei Bedeutungsvarianten: „Chance“ und „Danger“.

Um die Chancen wahrzunehmen und den Prozess der Veränderung in Kirche und Gesellschaft zu einem positiven Ergebnis zu führen, sind wir auf die Mitwirkung von Menschen angewiesen, die durch ihr persönliches Beispiel gezeigt und bewiesen haben, dass sie bereit sind, neue Wege zu beschreiten und ihre Träume zu realisieren.

Dazu, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, gehören auch Sie. Und so lassen Sie mich einen Spruch, den Sie überall auf den Plakaten finden, etwas abwandeln und ergänzen: DU BIST DEUTSCHLAND UND DU BIST KIRCHE!

Der NEINSAGER Nikolaus Groß war ein Märtyrer des christlichen Glaubens, weil er bereit war, im Widerstand gegen den Nationalsozialismus sein Leben einzusetzen. Märtyrer in der heutigen Zeit zu sein kann bedeuten – so der Bischof von Essen – sich als Teil einer Minderheitenkirche von anderen auslachen zu lassen und dennoch an einer persönlichen Überzeugung festzuhalten.

Ich möchte Sie liebe Abiturienten, die heute zu Ehemaligen werden, ermutigen, nicht nur Ihre intellektuellen Fähigkeiten, die Sie an dieser Schule erworben haben, zu entfalten, sondern sich mit Selbstbewusstsein, Überzeugung und Zivilcourage für die Werte einzusetzen, die Ihnen und dieser Schule wichtig sind, und unbeirrt den Weg gehen, den Sie als den für Sie richtigen erkannt haben – sowohl in der Hochschule als auch im Beruf.
Und so wünsche ich Ihnen einen schönen Abend in unserem Hause, ein gutes und gesundes neues Jahr 2006 und Gottes Segen auf allen Ihren Wegen.