Abiturrede Juni 2005

von | 16.11.2005

Auf der Abiturfeier hielt der Schulleiter Bernhard Nadorf die folgende Rede:

Liebe Abiturienten, Liebe Angehörige und Freunde, Liebe Kolleginnen und Kollegen,

der Stress der Abiturprüfung liegt hinter uns. Heute können wir gemeinsam feiern. Im Namen der Schulgemeinde des Nikolaus-Groß-Abendgymnasiums und im Auftrag unseres Bischofs Dr. Felix Genn möchte ich Ihnen, liebe Abiturienten, ganz herzlich zu Ihrer bestandenen Reifeprüfung gratulieren und jedem und jeder von Ihnen sehr persönlich Gesundheit, Erfolg und Gottes Segen für Ihren weiteren Lebensweg wünschen.

Wenn ich Ihnen heute Ihr Zeugnis überreiche, dann ist dies nicht das erste Zeugnis in Ihrer Schulzeit, und ich bin auch nicht Ihr erster Schulleiter – … und so gehen an einem Tag wie heute sicherlich auch Ihre Gedanken zurück an eine Schullaufbahn, die für einige von Ihnen vor Jahrzehnten begann – mit einer großen Zuckertüte und mit vielen Träumen für das Leben, das vor Ihnen lag.

Dieses Klassenphoto aus dem Jahre 1912 in Niederwenigern, einem kleinen Dorf zwischen Essen und Hattingen spiegelt die Hoffnungen und die Erwartungen junger Menschen, einem jungen Nikolaus Groß und einer jungen Elisabeth Groß, die später geheiratet haben.

Auch Sie haben vielleicht in Ihrem Familienalbum ein Photo der Abschlussklasse – so wie dieses, das Sie im Kreise Ihrer Klassenkameraden zeigt.

Vor einigen Jahren sind Sie dann nach dem Ende Ihrer Pflichtschulzeit zu mir in die Beratung gekommen und haben mir Ihre persönliche schulische Bilanz vorgelegt: Die Zeugnisse von der Hauptschule, von der Realschule, vom Gymnasium, aus Deutschland, aus Kirgisien, aus Palästina und aus vielen anderen Ländern. Manche trugen ein Datum aus den 70er, andere aus den 80er oder 90er Jahren.

Eines dieser Zeugnisse habe ich exemplarisch ausgesucht – und dazu das andere, vom Namengeber unserer Schule aus dem Jahre 1912.

Die Noten auf diesen Zeugnissen erzählen im zeitlichen Abstand von mehr als 70 Jahren von guten und schlechten Klassenarbeiten, von Siegen und von Niederlagen, sie erinnern uns an die vielen Gespräche in der Familie, in denen uns die Eltern nach Misserfolgen wieder neu aufgebaut und motiviert haben weiterzumachen…

…und als Sie vor einigen Jahren als Erwachsene ohne die Begleitung Ihrer Eltern wieder neu in einen Zweiten Bildungsweg eingetreten sind, da haben Sie mich – auch im Lichte von Scheitern und Misserfolg – häufig gefragt: Kann ich das schaffen?/Bin ich nicht zu alt dafür?/Werde ich Schule, Beruf und Familie vereinbaren können?

Der erste Leiter dieser Schule, Herr Heinrich Allekotte, ein Latein- und Griechischlehrer, pflegte auf diese Frage mit einem lateinischen Satz zu antworten: Potuerunt hae, et potuerunt hi, quare non ego?‘ Diese (Frauen) haben es gekonnt, diese (Männer) haben es gekonnt, warum nicht ich?

Diese rhetorische Frage ist wie ein Leitwort für die pädagogische Arbeit unserer Schule: „Du schaffst es und wir wollen alles tun, dass Du es schaffst.“ Junge Menschen brauchen unsere Unterstützung, ja, sie brauchen vor allem dann unsere Ermutigung, wenn sie mit einer Klassenarbeit nach Hause kommen, unter der die Note Mangelhaft oder Ungenügend steht.

Unsere Aufgabe als Lehrer besteht darin, wie es in der Bibel heißt, den glimmenden Docht nicht auszulöschen und das geknickte Rohr nicht zu brechen: zu integrieren und nicht zu selektieren, Wege von einer mangelhaften Note zu einer ausreichenden zu weisen, zu ermutigen und nicht zu entmutigen, objektiv zu beurteilen, aber nicht zu bestrafen, zu fördern und zu fordern und dies betrifft in gleicher Weise auch die Hochbegabten.

Das Nikolaus-Groß-Abendgymnasium ist im Kern eine Schule der Mutmacher, und das gilt für alle, die an dieser Schule arbeiten, vom Schulsekretariat über das Lehrerkollegium bis zur Schulleitung. Die individuelle Förderung unterschiedlicher Begabungen ist nicht nur die zukunftsweisende Antwort auf die Pisa-Studie und eine notwendige Konsequenz aus der Heterogenität unserer Lerngruppen, sondern das Bemühen um jeden Einzelnen muss auch deshalb im Mittelpunkt unserer pädagogischen Anstrengungen stehen, weil es zwar eine zweite Chance in einem zweiten, nicht aber eine dritte Chance in einem dritten Bildungsweg gibt. Das Abendgymnasium ist damit auch der letzte Bildungsweg, und es muss immer auch versuchen, der bessere zu sein.

Unsere Verantwortung für den Bildungsweg unserer Studierenden wurzelt aber vor allem in unserer christlichen Überzeugung, dass jeder Mensch, der hier an dieser Schule einen Abschluss erreichen möchte, unsere personale Zuwendung, unsere Liebe verdient. Er muss spüren, dass wir uns für ihn und für sie interessieren und ihn und sie persönlich in seiner oder ihrer Entwicklung fördern möchten.

Wer wie Sie heute Abend diese Schule in der Trägerschaft des Bistums Essen betritt, kommt an dem Kreuz im Eingang nicht vorbei, und er wird sich fragen, insbesondere wenn er kirchendistant oder kirchenskeptisch ist, worin das Besondere dieser Schule besteht. Ist es die Verpflichtung, am Religionsunterricht teilzunehmen oder ist es der Schulgottesdienst, zu dem wir regelmäßig einladen? Ich bin davon überzeugt, dass der Maßstab, an dem wir als Christen gemessen werden, die persönliche Glaubwürdigkeit unseres diakonischen Handelns ist. Der Widerstandskämpfer und Zellennachbar von Nikolaus Groß, Pater Alfred Delp hat das einmal folgendermaßen ausgedrückt: „Es wird kein Mensch an die Botschaft vom Heil und vom Heiland glauben, solange wir uns nicht blutig geschunden haben im Dienste des physisch, sozial, wirtschaftlich oder sonst wie kranken Menschen“.

Liebe Festgemeinde: Die jungen Menschen, die Sie am Anfang auf diesem Photo gesehen haben, sind nach ihrer schulischen Ausbildung in eine Lehre auf einer Zeche eingetreten mit dem Namen: „Auf Gott gewagt und ungewiss“, und sie haben ihre Verantwortung in Kirche und Gesellschaft wahrgenommen, indem sie für ihre Überzeugungen und für ihre Grundwerte eingetreten sind – auch und gerade in einer Welt, die am Ende der Weimarer Zeit in das Dunkle führte. Das Wort „Zivilcourage“ ist die französische Übersetzung des Wortes „Mut“, und Zivilcourage kann nur haben, wer vorher in Schule und Familie ermutigt worden ist.

Auch Sie treten in ein neues Jahrhundert ein – mit neuen Herausforderungen an Ihre Generation. Ich wünsche Ihnen, dass Ihre persönlichen und beruflichen Träume wahr werden. Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich als Christen und Bürger in Solidarität für Andere einsetzen und dass Sie Ihre Werte und Grundüberzeugungen mit Mut und Selbstvertrauen vertreten – auf einem Weg, der nicht in das Dunkle, sondern in das Helle führt.