Abiturrede Juni 2010

von | 19.06.2010

Rede des Schulleiters Bernhard Nadorf

Auf der Abiturfeier hielt der Schulleiter folgende Rede:

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, Liebe Freunde und Angehörige unserer Studierenden, Liebe Kolleginnen und Kollegen,

als Leiter des Nikolaus-Groß-Abendgymnasiums begrüße ich Sie alle ganz herzlich zu unserer gemeinsamen Abiturfeier im Sommer 2010.

Die Prüfungsphase liegt hinter uns; heute darf ich Ihnen, liebe Abiturienten Ihre Zeugnisse überreichen. Gemeinsam mit der Kirche im Bistum Essen und mit allen Studierenden und Lehrenden unserer Schule gratuliere ich Ihnen zur bestandenen Reifeprüfung.

Herzlichen Glückwunsch!

In diesem Sommer finden in Essen viele Abiturfeiern statt. An den Gymnasien im ersten Bildungsweg sind die Absolventen in der Regel 18 oder 19 Jahre alt; das Durchschnittsalter unserer Abiturientia liegt erkennbar höher. Anders als die Schulen des ersten Bildungsweges ist das Abendgymnasium keine Pflichtschule, sondern eine Angebotsschule. Sie bietet den Studierenden, die sich freiwillig und aus eigener Motivation für einen Zweiten Bildungsweg entschieden haben, eine neue Chance, das Ziel der allgemeinen Hochschulreife zu erreichen – bei gleichen Prüfungsaufgaben, aber – das wissen wir alle – bei ungleichen Prüfungsvoraussetzungen und Zeitvorgaben. Es ist diese besondere Leistung unserer Studierenden, die ihren Weg in der doppelten und dreifachen Belastung von Schule, Beruf und Familie gegangen sind, die diese Abiturfeier von anderen unterscheidet, und auch dazu gilt Ihnen allen – ganz unabhängig von der Durchschnittsnote, die Sie erreicht haben – unser Respekt und unsere Anerkennung.

In der Abiturientia dieses Jahres spiegelt sich auch die Migration in das Ruhrgebiet wieder. Die Wiege einiger unserer Studierenden stand nicht an der Ruhr, sondern im polnischen Thorn an der Weichsel, im italienischen Carriati am Golfo di Taranto, im russischen Tschu, in ukrainischen Kiew am Dnjepr, in Jaffna auf Sri Lanka an der Palk Strait, im polnischen Wejherowo am baltischen Meer und im afghanischen Kabul an der Logar Als Einrichtung der katholischen Kirche im Bistum Essen ist das Nikolaus-Groß-Abendgymnasium dem Leitwort der gemeinsamen Denkschrift der katholischen und evangelischen Kirche verpflichtet:“ Die Kirche kennt keine Fremden“ Wir begegnen den Menschen, die zu uns kommen, auf „gleicher Augenhöhe“ und schauen nicht auf sie herab. Mit ihren biographischen und kulturellen Erfahrungen tragen sie zur Bereicherung unserer Gesellschaft und unserer Bildungseinrichtungen bei.

Unsere Aufgabe als Abendgymnasium im Herzen des Ruhrgebietes besteht darin, unsere neuen Mitbürgerinnen und Mitbürger durch schulische Qualifikationen in die Gesellschaft zu integrieren und ihnen die Chance für einen beruflichen Aufstieg zu eröffnen. Das ist die zentrale gesellschaftspolitische Aufgabe in der Migrationsmetropole Ruhr. Sie ist – wie unser Weihbischof Vorrath bei seinem Besuch in dieser Schule im Gespräch mit unseren Studierenden betonte – auch eine Herausforderung für die Schulen in der Trägerschaft unseres Bistums.

Die Studierenden, die es geschafft haben, in einem für sie fremden Land mit einer Sprache, die alles andere als einfach ist und mit völlig neuen kulturellen Inhalten die Abiturprüfung zu bestehen, sind ein Beispiel der Ermutigung für die vielen anderen, die sich das vielleicht heute noch nicht zutrauen… oder, wie es eine Studierende in einer email formulierte: Auch die afghanischen Männer sollten etwas über den Reichtum der deutschen Philosophie und Psychologie, über Hegel, Kant und Freud erfahren…

Auch Ihnen, den Studierenden, deren Wurzeln nicht im Ruhrgebiet liegen, gilt heute mein ganz herzlicher Glückwunsch.

Wenn sich Studierende auf den Weg machen, parallel zu den Belastungen in ihrem Beruf und zu Ihren Verpflichtungen in ihrer Familie die Schule zu besuchen, dann sind sie auf Unterstützung und Ermutigung angewiesen. Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten haben Ihre Unterstützer und Ermutiger heute mitgebracht: Ihre Eltern, Ihre Ehepartner, Ihre Kinder und Ihre Freunde. Ich darf Sie heute ganz herzlich bei uns begrüßen; anders als an den Schulen des Ersten Bildungsweges gibt es bei uns keinen Elternsprechtag, und so sind die meisten von Ihnen heute zum ersten Male in unserem Hause. Obwohl Sie unsere Schule und die Lehrerinnen und Lehrer Ihrer Kinder nur aus ihren Erzählungen kennen, so sind sie doch alle in den vergangenen Jahren zu einem Teil des Projektes „Abitur“ geworden und haben unsere Abiturienten auf ihrem Weg begleitet. Dafür danke ich Ihnen sehr herzlich und ich freue mich, dass Sie heute Abend hier sind.

Liebe Festgemeinde: Prüfungen und Prüfungsergebnisse sind immer das Resultat der gemeinsamen Anstrengung von Lehrenden und Studierenden. Die Kolleginnen und Kollegen, die heute hier sind, haben unsere Abiturienten mit hohem Engagement auf die Abiturprüfung vorbereitet und in der Prüfungsphase begleitet. Die guten Leistungen unserer Abiturienten spiegeln dieses Engagement wieder.

Auch dafür möchte ich Ihnen, Liebe Kolleginnen und Kollegen sehr herzlich danken.

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten: Wenn ich Ihnen heute Ihre Zeugnisse überreiche, dann gehören Sie zum Kreis der ehemaligen Studierenden dieser Schule. Unsere ehemaligen Studierenden bilden ein Netz, das diese Schule trägt. Sie geben ihre Erfahrungen an die neuen Studierenden weiter und sie können mit ihrer positiven Bestätigung und mit ihrer konstruktiven Kritik zur Weiterentwicklung der Schule beitragen. Die Bereitschaft, auf konstruktive Kritik ebenso konstruktiv zu reagieren und die Rückmeldung der ehemaligen Studierenden als Quelle der Reflexion und Innovation gestaltend zu nutzen, zeichnet zukunftsfähige Bildungssysteme aus.

Wie Sie alle wissen, befinden sich kirchliche Schulen und Einrichtungen seit Beginn des Jahres in der Kritik, und vor ca. einer Woche startete die Westdeutsche Allgemeine Zeitung eine Leserbefragung zum Thema „Kirchenaustritt“. Dabei fand sich unter der Überschrift „Ein Schatz von Werten“ folgender Beitrag:

„Wenn immer behauptet wird, die Kirchen würden zu wenig auf die Menschen zugehen, so gilt aber genauso zutreffend das Gegenteil. Ich habe das mit meiner Anmeldung am Bischöflichen Abendgymnasium/Nikolaus-Groß-Abendgymnasium getan. Wie sich später herausstellen sollte, war es eine meiner ganz wichtigen und nachhaltig wirkenden Entscheidungen meines Lebens. Meinen hervorragenden Lehrern und der katholischen Kirche bin ich für die vielen richtungweisenden Anregungen auch heute noch sehr dankbar. Heute weiß ich, welch ein Schatz an religiösen und humanen Werten uns vermittelt wurde.“

Wer diesen Beitrag liest, mag zunächst etwas verwundert sein. Der Studierende erinnert sich nicht in erster Linie an eine besonders gute Durchschnittszensur oder an die berufliche Karriere, die er nach dem Abitur machen konnte. Es geht ihm offensichtlich um das Prinzip der Personalität, also um die Prägung durch gute Lehrer und um die humanen Werte, die er an dieser Schule erfahren durfte.

Dies – so sagt er – ist das bleibende Erbe dieser Schule, das seinen Lebensweg entscheidend bestimmt und verändert hat.

Liebe Abiturienten und liebe zukünftige Ehemalige unserer Schule: Die Zeugnisse, die ich Ihnen heute überreiche, bewerten ihre intellektuelle Leistung in unterschiedlichen Fächern – auf der Grundlage eines Punkteschemas, das durch das Ministerium für Schule und Weiterbildung in Düsseldorf vorgegeben ist. Sie scheinen das, was dieser Studierende auch nach vielen Jahren als die zentrale Erfahrung seines Lebens bezeichnet, nicht widerzuspiegeln und in jedem Fall nicht zu bepunkten.

Es ist vielleicht nicht messbar, aber es ist darum nicht weniger relevant und weil es unseren Ehemaligen auch nach langer Zeit so wichtig ist und ihren Lebensweg prägt, ist es auch für unsere Schule von hoher Priorität.

Wenn man in dieser Schule auf die Suche geht, um die Erfahrungen dieses ehemaligen Studierenden in Schule und Unterricht wiederzufinden, dann kann man – so möchte ich behaupten – an vielen Punkten fündig werden. Man kann vor allem angesichts der Probleme in Kirche und Gesellschaft die These vertreten, dass wir die Vermittlung von Werten noch sehr viel stärker auch in Zukunft zum Gegenstand von Bildung und Weiterbildung machen sollten, um unser gesellschaftliches Handeln an grundlegenden ethischen Maßstäben zu orientieren.

Lassen Sie mich diese Werteorientierung ohne Anspruch auf Vollständigkeit an drei Beispielen deutlich machen. Zwei davon stammen aus dem Fach Philosophie, eines aus dem Fach Geschichte. Sie stammen aus Unterrichtsbesuchen, die ich in diesen Fächern durchgeführt habe.

Das erste Beispiel thematisiert die Handlungsoptionen der Justiz im Falle der Entführung des Kindes von Jakob von Metzler durch Magnus Gäfgen im Jahre 2002. Der stellvertretende Polizeipräsident Wolfgang Daschner hatte dem Täter die Folter angedroht, um damit die Information über den Aufenthaltsort des Opfers zu erzwingen. Ist die Folter legitim, um damit größeres Unheil zu verhindern? Ist die Anwendung von Folter mit der personalen Würde des Menschen vereinbar?

In einer solchen Diskussion unterschiedlicher Positionen können sich ethische Maßstäbe für das Handeln von zukünftigen Rechtsanwälten, Richtern und Staatsanwälten bilden. Das sind die Sternstunden von Schule.

Zu diesen Sternstunden gehört auch die Behandlung des Themas „Euthanasie“ im Geschichts- und Philosophieunterricht der Schule. Viele unserer Studierenden arbeiten in Heil- und Krankepflegeberufen oder auch als Altenpfleger, und wenn wir über die Würde des Menschen am Ende seines Lebens sprechen, dann wissen sie oft mehr als wir, und wir können von ihnen lernen. Die Auseinandersetzung über die Möglichkeiten und Grenzen der Sterbehilfe sind ebenfalls ein wichtiger Bestandteil einer Wertebildung, die Menschen, die in medizinischen Berufen Verantwortung tragen genauso prägt wie die Lehrer, die häufig genug als Empfangende an diesen Gesprächen teilnehmen.

In einem solchen Gespräch über die ethischen Grundlagen menschlichen Handelns zeigt sich, wie viel wir als Lehrer mit philosophischer und historischer Ausbildung und als Studierende mit Praxisbezug im Dialog über zentrale Fragen menschlicher Existenz voneinander und miteinander lernen können. Auch dies kann ein konkreter Beitrag für die Vorbereitung auf ein Medizinstudium sein.

Kein anderes Thema bewegt die Menschen heute so stark wie die internationale Wirtschaftskrise. Viele beklagen eine Ellenbogengesellschaft, in der Menschen ohne jede Rücksicht auf das Gemeinwohl ihre persönlichen finanziellen Interessen verfolgen und damit ganze Volkswirtschaften und Staaten ruinieren. Gerade in diesem Bereich brauchen wir Maßstäbe, die sich an den zentralen Prinzipien der personalen Würde und der Solidarität orientieren. Sie beruhen auf der christlichen Soziallehre, die unser Ruhrgebiet, unser Ruhrbistum, seinen Seligen Nikolaus Groß und damit auch unsere Schule in entscheidender Weise geprägt haben.

Als Lehrerinnen und Lehrer am Nikolaus-Groß-Abendgymnasium sind wir der Wertebildung in Schule und Unterricht verpflichtet: bei der Vorbereitung auf ein Hochschulstudium von Juristen, Ärzten und Managern und vieler anderer akademischer Berufe.

Die Grundlage dafür ist unser christlicher Glaube, und der Satz, der in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.

Die Orientierung an diesen Grundwerten prägt in ihrer konkreten Zielsetzung den Unterricht in allen Aufgabenfeldern: Im sprachlich-literarisch-künstlerischen, im gesellschaftswissenschaftlichen, im mathematisch-naturwissenschaftlichen Aufgabenfeld und im Aufgabenfeld Religion und auch die Beziehungen zwischen Lehrenden und Studierenden.

Liebe Festgemeinde: Gestern, am ehemaligen Tag der Deutschen Einheit, habe ich einen Vortrag von Werner Schulz gehört. Er war ein Mitglied der Bürgerrechtsbewegung in der ehemaligen DDR, wurde von der Stasi verfolgt, hat dann maßgeblich am Fall der Mauer im Jahre 1989 mitgewirkt und ist heute Abgeordneter im Europaparlament. Er sprach glaubwürdig über den Wert der Freiheit als jemand, der früher unfrei war. Man kann Werte umso mehr schätzen, wenn man – wie einige von Ihnen – im eigenen Heimatland in einer ähnlichen Situation wie Werner Schulz war.

Werte sind global, und sie sind auch zeitlos. Und es gibt – wie das Beispiel unseres Namengebers Nikolaus Groß zeigt – auch Menschen, die mit ihrem Leben für die personale Würde anderer eintreten.

Werte können aber auch wertlos werden, sie werden entwertet, wenn sie nicht von denen beachtet werden, die sie anderen empfehlen.

Viele Menschen sind gerade nach den Enttäuschungen in Kirche und Gesellschaft auf der Suche nach Menschen, denen sie wirklich glaubwürdig vertrauen können – und dies zeigt die Diskussion über die Wahl des neuen Bundespräsidenten sehr deutlich.

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir einen Beitrag zur Wiederherstellung dieses Vertrauens leisten können, wenn wir in unseren Schulen Werte vermitteln und leben und auch alle diejenigen ernst nehmen, die unsere Glaubwürdigkeit testen.

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, Liebe Festgemeinde, in diesen Tagen fesselt die Fußballweltmeisterschaft unsere Aufmerksamkeit. Ihr Spiel an dieser Schule ist – um im Bild zu bleiben – beendet; für einige von Ihnen war das die erste Halbzeit, und Sie werden Ihre zweite Halbzeit dann an einer Hochschule fortsetzen. Andere werden ihre Bildungsbiographie mit der Allgemeinen Hochschulreife beenden und jetzt zum Duschen in die Kabine gehen.

Alle werden wahrscheinlich konditionell etwas erschöpft sein und neue Kräfte tanken müssen.

Ihnen allen wünsche ich Gottes Segen auf all Ihren Wegen in Ihre persönliche Zukunft. Ich gratuliere Ihnen im Namen aller, die heute hier sind, zu Ihrem Erfolg. Auch nach dem Abitur sind Sie in Ihrer alten Schule immer sehr herzlich willkommen, und ich darf Sie schon jetzt zu unserem Schulfest am 18. September einladen.

Heute Abend wird gefeiert. Dazu sind Sie alle sehr herzlich eingeladen.

18. Juni 2010

Bernhard Nadorf