Integration beginnt im Kopf

von | 01.05.2010

Predigt im Gottesdienst mit Pensionären und Schulleitern der katholischen Abendgymnasien

Donnerstag, 29. April 2010 im Kardinal-Hengsbach-Haus Essen-Werden

Schrifttexte vom Fest der heiligen Katharina von Siena
1. Lesung: 1 Joh 1,5 – 2,2; Evangelium: Mt 11,25-30

Liebe Schwestern und Brüder!

Im Jahr 1887 geht ein Mann über den Mailänder Hauptbahnhof. In der Bahnhofshalle sieht er drei-, vierhundert ärmlich gekleidete Leute. Alte Menschen sind darunter, mit faltigen Gesichtern, aber auch junge, kräftige Gestalten. Mütter, die Kinder an der Hand halten oder auf dem Arm tragen, ebenso ältere Jungen und Mädchen. Alle diese Menschen, die sich nicht nur an diesem einen Tag im Hauptbahnhof von Mailand versammeln, haben ein gemeinsames Ziel: Dass der Dampfer sie von Genua aus ins ferne Amerika bringt.

Der Mann, der diese Szene beobachtet, heißt Giovanni Battista Scalabrini. Seine drei Brüder waren nach Argentinien ausgewandert. Er selbst war Bischof von Piacenza in Norditalien. Was er da auf dem Mailänder Bahnhof gesehen hatte, bewegte ihn tief. Tagelang war er bedrückt. Wie konnte den Menschen geholfen werden, die aufgrund der großen Armut in Italien ihre Heimat hinter sich ließen und voller Hoffnung auf ein besseres Leben die Reise in ein völlig fremdes Land antraten?

Bischof Scalabrini war in guter christlicher Tradition ein Mann der Tat. So schickte er Ordensschwestern und Priester zu den Auswanderern in alle Welt, um diese in der schwierigen Situation des Neuanfangs in der Fremde zu unterstützen. Aus diesem Impuls entstand die Ordensgemeinschaft der Scalabrini, die bis vor einigen Jahren auch in unserem Bistum tätig war. Die Mitglieder dieses Ordens kümmern sich heute nicht allein um italienische Auswanderer, sondern um alle Migrantengruppen, vor allem auch um die Not von Flüchtlingen.

Liebe Schwestern und Brüder,
Bischof Scalabrini, der 1997 selig gesprochen wurde, beschäftigte sich jedoch nicht nur mit der konkreten Hilfe für Auswanderer, sondern stellte sich auch die Frage: Wie kann man aus christlicher Sicht die Wanderungsbewegungen in der Welt verstehen und deuten?

Übrigens betraf dies im 19. Jahrhundert nicht nur viele Italiener. Auch fast 6 Millionen Deutsche verließen zwischen 1820 und 1930 ihre Heimat, weil sie so der Armut in Europa zu entfliehen hofften und sich in Amerika bessere Lebensbedingungen versprachen.

Und schon damals im 19. Jahrhundert galt: Wenn Menschen ihre Heimat verlassen und sich in einer neuen Umgebung zurecht finden müssen, dann sind damit Not, Leid, persönliche Brüche und vor allem auch gesellschaftliche Probleme verbunden. Soll man daher – so fragte sich Bischof Scalabrini – aus christlicher Perspektive die Wanderungsbewegungen und das damit verbundene Zusammentreffen von Menschen verschiedener Herkunft, das oft ein großes Durcheinander ist, als etwas Schlechtes ansehen und zu verhindern suchen?

Eine solche Sichtweise würde bedeuten, den Menschen ihre Träume und ihre Hoffnungen auf eine bessere Zukunft zu nehmen. Es würde zudem bedeuten, den Auswanderern und Flüchtlingen ihr Recht auf ein Leben ohne Hunger und Not, ohne Unterdrückung und Gewalt abzusprechen. Um nachzuvollziehen, was dies bedeuten würde, brauchen wir uns heute nur in die Lage der Christen im Irak zu versetzen.

Tausende sind als Flüchtlinge unterwegs, um der Unterdrückung, ja dem Tod zu entgehen.

Dem Bischof aus Italien wurde bald klar, dass eine solche ablehnende Haltung der Migration gegenüber nicht mit dem christlichen Glauben zu vereinbaren ist. So entwarf er das Bild von einer Welt, die gerade durch die Auswanderung immer mehr zur Heimat des Menschen wird. Seine Vision ist eine Welt, die durch freiwillige und erzwungene Wanderschaften von Menschen immer mehr zusammenwächst und eins wird. Eine Welt, in der Menschen sich nicht voneinander abgrenzen, sondern offen sind gerade für diejenigen, die als Fremde ins Land kommen.

Liebe Mitchristen,
diese christliche Grundhaltung der Offenheit gerade Fremden gegenüber war und ist auch von uns, von unseren Gemeinden und unseren kirchlichen Einrichtungen in Deutschland und speziell im Ruhrgebiet gefordert.

„Integration beginnt im Kopf“ – so hatte die Caritas deshalb einen ihrer Jahresthemen überschrieben. Und der zweite Teil dieses Jahresmottos lautete: „Wir sind uns ähnlicher als wir denken.“ Dies gilt, wie der kleine geschichtliche Rückblick gezeigt hat, schon mit Blick auf Einwanderung und Auswanderung.

Auch Deutsche haben in mehreren Phasen der jüngeren Geschichte ihre Heimat verlassen – freiwillig oder von Not und Gewalt erzwungen. Auch sie waren darauf angewiesen, dass sie offen und gastfreundlich aufgenommen wurden, dass man ihnen die Chance gab, sich einzuleben. In den letzten Jahren sind es übrigens wieder mehr Deutsche, die wegen fehlender Chancen auf dem Arbeitmarkt ihr Glück im Ausland suchen.

„Wir sind uns ähnlicher als wir denken“ – diese Formulierung will jedoch vor allem den Blick auf die aktuelle Diskussion in Deutschland lenken und das Verbindende zwischen Deutschen und Zuwanderern betonen. Wir alle haben noch viel zu oft Mauern und Grenzen in unseren Köpfen, die zu einer vielfach künstlichen Abgrenzung gegenüber Fremden und Ausländern führen.

Doch das christliche Menschenbild erlaubt uns nicht, wertende Unterschiede zwischen Menschen verschiedener Herkunft, Nationalität oder Religion zu machen. Die von Gott gegebene Würde gilt es in jedem Fall zu achten. Sie gilt Einheimischen wie Zugewanderten, Italienern wie Spaniern, Kroaten wie Portugiesen, Türken wie Deutschen, Muslimen wie Christen. Daher ist jede Form der Diskriminierung nicht nur unmenschlich, sondern auch unchristlich.

Liebe Schwestern und Brüder,
in unserem Glauben berufen wir uns auf den Gott und Vater aller Menschen, den Schöpfer des Himmels und der Erde und damit eben auch jedes einzelnen Menschen. Weil jedoch immer die Gefahr besteht, dass Fremde an den Rand gedrückt werden, trägt Gott bereits dem Volk Israel auf: „Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen“ (Lev 19, 33-34).

Es ist dieser Gott, der das Heil aller Menschen will. Im Alten Testament kommt dies zum Ausdruck im Bild der Wallfahrt aller Völker zum Zion. Der Gott, an den wir glauben, ist eben kein Stammesgott oder Nationalgott. Er ist – so bezeugen die Propheten Micha und Jesaja – ein Gott für alle Menschen und für alle Völker (vgl. Jes 2, 1-5; Micha 4, 1-5).

Weil Gottes Zuwendung und Liebe allen Menschen gilt, hat er schließlich in Jesus Christus ganz das Bild des Menschen angenommen – nicht nur das Bild des jungen und starken, sondern gerade das des alten und schwachen; nicht nur das des gesunden, sondern gerade das des kranken und leidenden Menschen; nicht nur das des Einheimischen, sondern das des Fremden.

Auf diesem Hintergrund spricht Jesus in der Szene vom Weltgericht die Sätze: „Was ihr für einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen“ (Mt 25, 40. 43).

Liebe Schwestern und Brüder,
dieser kurze Blick in die biblische Botschaft lässt keinen Zweifel, dass für den christlichen Glauben die gleiche Würde aller Menschen und die Einheit der Menschheitsfamilie das Fundament sind. Von diesem Fundament her bedeutet das Zusammentreffen von Menschen verschiedener Herkunft für Christen immer den Impuls, sich für Verständigung, Begegnung und Dialog und damit auch für die Integration einzusetzen.

Das bleibt eine ständige Herausforderung. Viele tun sich schwer, Schritte der Begegnung und des Dialogs auf Juden und Muslime hin zu tun, obwohl wir den Glauben an den einen Gott, an die Schöpfung und das Gericht gemeinsam haben. Auch hier gilt: „Wir sind uns ähnlicher als wir denken.“ Und schließlich ist es für viele nicht leicht, sich an das Leben in einer Gesellschaft zu gewöhnen, in der die Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturen und Traditionen Tür an Tür wohnen und arbeiten, beten und feiern, streiten und sich versöhnen.

In einer solchen Gesellschaft, liebe Mitchristen, braucht es ein Leitbild für das Zusammenleben. Auf der Grundlage des christlichen Glaubens heißt dies: Die Gesellschaft muss so gestaltet werden, dass alle hier lebenden Menschen die gleichen Chancen und Rechte, aber auch die gleichen Pflichten haben.

Neben der gerechten Teilhabe an der Gesellschaft geht es bei der Integration dann vor allem um die Reichweite und um die Grenzen des Respekts vor dem Anders-Sein anderer Menschen und Gruppen.

Grenzen sind eindeutig und entschieden dort zu ziehen, wo die Würde und die Rechte anderer Menschen verletzt werden, wo der Boden der Verfassung verlassen wird, auf dem ein freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen basiert. Aber diese Grenzen dürfen nicht so eng gezogen werden, dass legitime kulturelle und religiöse Überzeugungen und Lebensformen nur deshalb beargwöhnt und eingeschränkt werden, weil sie fremd und ungewohnt sind.

Gegen die pauschale Behauptung, dass die Zuwanderer oder – wie man dann oft sagt – die Ausländer, unseren Staat ausnutzen, ist daran zu erinnern, dass es unserem Land ohne Zuwanderer schlechter ginge als mit ihnen. Als Kirche sollten wir dafür werben, der offenen, unvoreingenommenen Begegnung grundsätzlich mehr Recht zu geben als dem Misstrauen und der Abgrenzung.

Gegen die Rede von einem Zusammenprall der Kulturen auch in Deutschland, gegen eine einseitige Wahrnehmung, die beim Stichwort Migranten allein an Parallelgesellschaften, Zwangs-heiraten, Ehrenmorde, Kopftuchverbot, Hilferufe von Schulen und Terrorgefahr denkt, können wir aus der Dialogarbeit in unserem Bistum die Erfahrung stellen, dass die ganz große Mehrheit der Zuwanderer sich von Gewalt und Fundamentalis-mus ebenso abwendet wie die Deutschen und dass es keine Alternative zum Dialog der Kulturen und Religionen gibt. Dieser Einsatz für einen interkulturellen und interreligiösen Dialog gehört in die Mitte der christlichen Weltverantwortung und ist einer der zentralen Beiträge, die wir als Christen heute für Frieden und Gerechtigkeit leisten können und müssen. Eine Herausforderung auch für unsere katholischen Schulen.

Weihbischof Franz Vorrath