Neues Biogramm für das Namenschild
Auf die Initiative des Nikolaus-Groß-Abendgymnasiums wurde heute die Gerhard-Stötzel-Straße in Essen-Huttrop, das ist die Fortführung der Franziskanerstraße, mit einem Biogramm versehen, das die Persönlichkeit und das Lebenswerk des Namengebers erklärt und würdigt. Mit diesem Biogramm erinnert die Schule an einen Mann der katholischen Soziallehre, der die Geschichte des Ruhrgebiets in der Zeit von 1877 bis 1905 mit seinem sozialpolitischen Engagement wesentlich mitgeprägt hat.
Das Lebenswerk von Gerhard Stötzel ist auch in einem Buch dokumentiert, das von Lehrerinnen und Lehrern der katholischen Schulen im Bistum Essen im Jahre 1991 zum 100. Jahrestag von RERUM NOVARUM herausgegeben wurde.
Gerade im Jahr der Kulturhauptstadt 2010 ist es wichtig, dass wir uns in unseren Schulen und Weiterbildungseinrichtungen auf unsere historischen Wurzeln beziehen und daraus auch die Kraft für die Gestaltung unserer Zukunft schöpfen. Die Straßen unserer Stadt sind mit ihren Schildern Zeichen der Erinnerung an Persönlichkeiten unserer Geschichte, die sich in vorbildlicher Weise für das Gemeinwohl eingesetzt haben. Machen wir die Namengebung dieser Straße zum Auftakt für die Namengebung vieler anderer Straßen in Essen, deren Namengeber es verdient hätten, dass man sich auch heute und in Zukunft an sie erinnert.
Gerhard Stötzel
* 4.12.1835 † 01.06.1905
Dreher bei Krupp
1877 – 1905: Erster katholischer Arbeiter im Deutschen Reichstag
Lesen Sie hier einen Auszug aus der Essener Volkszeitung Nr. 17 vom 23. Januar 1877:
Aufruf der katholischen Volkspartei zur Stichwahl für den Reichstag
Gerhard Stötzel (1835 – 1905)
Metallarbeiter bei Krupp; Mitglied des Piusvereins und des christlich-sozialen Vereins in Essen, Redakteur beim „Volksfreund“, Gründer des Volksbüros in Essen, Mitglied des Reichstags seit 1877 (erster katholischer Arbeiter im Reichstag).Ein letztes Wort an die katholischen Wähler des Kreises. Die Katholiken des Kreises haben in ihrer Mehrzahl (mit 7828 gegen 6689 Stimmen) sich am 10. Januar für Herrn v. Forcade gegen Herrn Stötzel erklärt.
Die Christl-Socialen können nur siegen mit Hülfe der Liberalen und der Socialdemokraten. Die Liberalen haben offiziell erklärt, jedem Mitgliede der Partei die Entscheidung zu überlassen.
Die Socialdemokraten richten an ihre Parteigenossen folgenden Wahlaufruf zu Gunsten des Herrn Stötzel:
An die Socialisten des Kreises Essen.
Bei der Wahl am 10. Januar hat unser Candidat nicht eine Stimmenzahl auf sich vereinigt, die ihn zur engeren Wahl bringt. 1800 Stimmen wurden für unsere Candidaten mehr abgegeben, wie im Jahre 1874. Ein gewiß nicht zu unterschätzender Fortschritt.
Forcade und Stötzel, beide Candidaten der ultramontanten Partei, kommen zur Stichwahl.
Forcade ist der Candidat der ultramontanten Bourgeoisie-Partei, Stötzel, der von Arbeitern aufgetstellte Candidat. Wie verhalten wir uns nun bei dieser Stichwahl? Hierauf die Antwort: Die Frage der Confession, sowie die des Culturkampfes, hat bei der Stichwahl jedwede Bedeutung verloren. Um so schroffer tritt der Classenkampf in den Vordergrund.
Forcade, der Candidat der Besitzenden; Stötzel, der von Arbeitern aufgestellte Candidat. Die untramontane Partei hat von jeher dem Grundsatz gehuldigt, die Autorität des Clerus zu wahren. Wir sind gegen jede Autorität eines Standes, wir wollen das Selbstbestimmungsrecht. Auch diese Frage ist bei der Stichwahl nicht ohne Bedeutung.
Forcade ist den Ultramontanen von fast sämmtlichen Geistlichen des Kreises Essen als Candidat empfohlen. Stötzel, nach der „Volkszeitung“, nur von einem Einzigen. Schon hören die christlich-sicialen Arbeiter nicht mehr auf den Mahnruf des Clerus, auch bei ihnen tritt das Klassenbewußtsein in den Vordergrund.
Wir dürfen nun um keinen Preis diese Partei sich damit entschuldigen lassen, daß sie bei der jetzigen Wahl nicht gesiegt habe. Fortwährend würde sie sich darauf berufen, daß sie nichts thun könnte für das arbeitende Volk, weil sie nicht als Sieger aus Wahlurne hervorgegangen sei.
Darum am Wahltage bestehen wir die Probe: Wählen Sie Stötzel!
Nach der Wahl werden wir weiter agitieren, damit auch die letzte Schranke fällt, die unsere Arbeitsbrüder von uns trennt.
Auf zur Wahl, Stötzel muß durch!
H. Strumpen. E. Seelig. L. Baß A. Kremer
Die Socialdemokraten behaupten, bei dieser engeren Wahl trete der „Klassenkampf schroff in den Vordergrund“ und „die christlich-socialen Arbeiter hörten nicht mehr auf den Mahnruf“ des Clerus. Die Socialdemokraten selbst fördern den Klassengegensatz und den Priesterhaß. Sie glauben die Christlich-Socialen schon halb gewonnen zu haben: nur die letzte Schranke muß noch fallen!
Und wie denkt Herr Stötzel über seine eignen christlich-socialen Parteigenossen?
Er sagte am 14. Januar in der Altenessener Versammlung: (siehe Ref. in Nr. 10 d. Ztg.) er habe die Candidatur nicht abgelehnt, um der Centrumspartei im hiesingen Kreise die Schmach zu ersparen, mit seinem Socialdemokraten sich in der Stichwahl messen zu müssen, welcher Fall durch sein Ablehnen sicher eingetreten wäre. Herr Stötzel ist also der Meinung, daß eine große Zahl seiner christlich-sicialen Parteigenossen eher einem Socialdemokraten als dem Centrumsmitgliede Herrn v. Forcade ihre Stimme geben würden. – Am 23. Januar kämpfen die Socialdemokraten gemeinsam mit den Christlich-Socialen gegen den Centrums-Candidaten Herrn v. Forcade.
Katholische Wähler! Kannst und darfst du Schulter an Schulter kämpfen mit den Socialdemokraten gegen deine Glaubensgenossen, die Vertreter des Centrums?
Die Socialdemokraten predigen den Umsturz, predigen und erstreben die Vernichtung der katholischen Kirche, lehren den nackten Unglauben; sie leugnen das Dasein Gottes, die Unsterblichkeit der Seele, Himmel und Hölle. Und Bebel, der Führer der Socialdemokraten, erklärt öffentlich: „die Katholiken sind unsere Todfeinde“.
Katholiken! Wen wollt Ihr? Den von den Christlich-Socialen und Socialdemokraten empfohlenen Herrn Stötzel?
Nimmermehr!
Wir wählen den vom Centrum empfohlenen bewährten Herrn Obertribunalsrath v. Forcade in Berlin.
Das Wahlcomitee der kath. Volkspartei.
Essener Volkszeitung Nr. 17 vom 23. Januar 1877, S. 1