Rede von Bernhard Nadorf zum Volkstrauertag auf dem Friedhof Holthuser Tal in Essen-Überruhr
Sehr geehrte Mitbürgerinnen und Mitbürger, Liebe Mitglieder der Katholischen Arbeitnehmerbewegung,
90 Jahre nach dem Ende des ersten Weltkrieges und 70 Jahre nach der Pogromnacht von 1938 haben wir uns heute hier vor diesem Ehrenmal versammelt, um an die Toten der beiden Weltkriege zu erinnern. Unsere Mitbürger, die in diesen Kriegen gefallen sind, liegen nicht auf diesem Friedhof. Sie sind auf den großen Soldatenfriedhöfen der Welt beigesetzt worden – auf den Mohnfeldern von Flandern, in den Steppen der Ukraine oder in der Wüste Afrikas. Viele Opfer von Krieg und Gewalt haben keine Gräber, an denen ihre Angehörigen und Freunde trauern können; sie wurden aufgehängt, verbrannt oder vergast, und ihre Asche wurde über die Rieselfelder verstreut.
Ausschwitz hatte keinen Friedhof, sondern nur ein Krematorium.
Es gehört zu der perfiden Strategie der Diktaturen im 20. Jahrhundert, Erinnerung zu zerstören und Menschen der Möglichkeit zu berauben, Abschied zu nehmen und zu trauern.
Umso wichtiger ist es für uns in Überruhr, dass die Opfer von Krieg und Gewalt einen Namen tragen, und die Namen der jungen Männer, die im ersten Weltkrieg gestorben sind, befinden sich auf dieser Tafel.
Als ich das erste Mal mit meinem Sohn das Ehrenmal am Hinseler Hof besuchte, da fiel ihm auf, dass diese jungen Männer in unterschiedlichen Jahren geboren, aber alle im gleichen Jahr gestorben waren – und zwar sehr jung. Und ich habe ihm damals erklärt, dass Krieg ist, wenn Menschen mit unterschiedlichen Geburtstagen alle an einem Tag sterben…
Die Geburtsdaten der Männer, deren Namen auf dieser Tafel eingetragen sind, stammen aus den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts und mein Sohn wurde im Jahre 1988 geboren. Es ist seine Urgrossvätergeneration, die im ersten Weltkrieg geblieben ist, und es ist seine Großvätergeneration, die den zweiten Krieg nicht überlebt hat.
Die jungen Männer, die im Jahre 1888 oder 1913 geboren wurden, hatten die gleichen Träume und Zukunftserwartungen wie unsere Kinder. Sie wollten einen Beruf erlernen, studieren und eine Familie gründen. Sie wollten bis zum Jahre 1978 oder 2010 leben und ihren Ruhestand im Kreise ihrer Enkelkinder genießen.
Der Krieg hat diese Träume zerstört. Die Toten der Weltkriege mahnen uns, dass die Träume unserer Kinder nicht im Jahre 2014 oder 2039 in ähnlicher Weise auf den Schlachtfeldern der Zukunft enden.
Und so ist der heutige Volkstrauertag zum einen ein Tag der Erinnerung und des Gedenkens. Er verpflichtet uns aber darüber hinaus, immer wieder aktiv für den Frieden und für die Versöhnung einzutreten – nicht nur in Europa, sondern weltweit. Die Schlachtfelder und Soldatenfriedhöfe in Nordfrankreich, wo sich ein weißes Kreuz endlos an das andere reiht, sind Vergangenheit, aber seit dem Zweiten Weltkrieg sind neue Massengräber entstanden – auf dem Balkan, in Ruanda oder in Kambodscha. Auch diese Toten schließen wir heute in unsere Erinnerung ein.
Die Ehrenmäler, vor denen wir heute um unsere verstorbenen Großeltern trauern, sind fast alle in den zwanziger Jahren entstanden. Sie sind häufig ein Teil staatlicher Erinnerungskultur mit patriotischen und heroischen Leitworten. Ist es wirklich süß und ehrenvoll für das Vaterland zu sterben, wie der römische Schriftsteller Horaz behauptete? Der Tod im Krieg war nicht süß, sondern er war grausam – im Winter vor Stalingrad, in den Schützengräben von Verdun oder in der Bombennacht von Dresden. Wenn die Menschen, die diesen grausamen Tod erleiden mussten, heute unter uns wären, dann würden sie sich – da bin ich mir sehr sicher – sehr viel stärker mit dem Bild der trauernden Witwe identifizieren, das wir in der neuen Wache in Berlin finden. Diese Plastik wurde von Käthe Kollwitz im Jahre 1937 geschaffen, und sie erinnert an ihren Sohn, der im ersten Weltkrieg in Flandern gefallen war. Witwen wie die in Berlin, leben heute noch unter uns, und wenn wir in die Altersheime gehen, dann sehen wir auf dem Nachtschränkchen die vergilbten Fotos ihrer Ehemänner, die im Krieg gefallen sind. Auch ihr Leben wurde durch diesen Krieg zerstört, für sie können die restlichen 70 Jahre ihres Lebens zu einem dauerhaften Volkstrauertag werden.
Lassen Sie uns heute den Krieg nicht aus der Perspektive der Generäle, sondern aus der Sicht dieser Witwen betrachten. Es sind die Frauen, die ihre Erfahrungen der letzten 70 bis 80 Jahre an ihre Enkelkinder an einem Tag wie heute weitergeben. Sie fragen die handelnden Politiker nach ihrer Verantwortung für den Krieg, der ihr Leben zerstörte. Ein Krieg ist kein Naturereignis wie ein Erdbeben, das ohne Warnung über uns kommt. Kriege werden gemacht, und dass Kriegsverbrecher wir Herr Karadzic jetzt auch vor dem Tribunal in Den Haag zur Verantwortung gezogen werden können, gehört zu den großen Errungenschaften der Zivilisation.
Aber die Witwen der Soldaten, die im Krieg gefallen sind, fühlen sich auch dem Erbe ihrer verstorbenen Ehemänner verpflichtet, und so erinnern sie ihre Enkelkinder daran, dass der Frieden, der die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und Europas mehr als 50 Jahre geprägt hat, keine Selbstverständlichkeit ist und immer wieder neu gefestigt werden muss.
Alle Begegnungen, die diesem Ziel dienen, gehören daher zum geistigen Erbe derjenigen, die auf dieser Tafel verzeichnet sind: Beispielhaft nenne ich „Die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ und die vielfältigen Städtepartnerschaften, mit denen sich die Stadt Essen mit ihren ehemaligen Kriegsgegnern verbindet.
So geht von dem heutigen Tag auch ein Signal der Ermutigung aus an die Generation der Enkel: Beteiligt Euch durch Euer persönliches Engagement an der Sicherung des Friedens: Weil ihr von Euren Großmüttern wisst, wohin der Rassismus führt, setzt Euch für das friedliche Zusammenleben der Kulturen im Ruhrgebiet ein, und weil Eure Großmütter davon erzählt haben, wie ihre jungen Ehemänner mit fliegenden Fahnen im August 1914 die Kettwiger Straße herunter zum Bahnhof in den Krieg gezogen sind, entwickelt eine Begeisterung für den Frieden und nicht für den Krieg.
Der heutige Tag ist nicht eine Gelegenheit für einen verklärten oder nostalgischen Rückblick. Er fordert uns alle heraus, unsere Verantwortung aktiv wahrzunehmen.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, Liebe Freunde der KAB,
In besonderer Weise erinnern wir heute an die Männer und Frauen des Deutschen Widerstandes, die sich gegen das verbrecherische Hitlerregime und für die Würde des Menschen eingesetzt haben. Die Bundesrepublik Deutschland ist der einzige Staat in Europa, dessen Verfassung mit dem Satz beginnt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.
Wir alle wissen, warum. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Würde des Menschen vielfach angetastet und verletzt: In den Folterkammern der Gestapo, bei den medizinischen Experimenten in den Konzentrationslagern, in den Euthanasie-Gaskammern von Hadamar.
Die Bundesrepublik Deutschland ist daher vor allem dem geistigen Erbe der Männer und Frauen verpflichtet, die in einer Zeit für die Wahrung der Menschenwürde eingetreten sind, als dies mit einer Gefährdung für Leib und Leben verbunden war. Auf ihren geistigen Schultern steht diese Gesellschaft, ihrem Erbe sind wir dauerhaft verpflichtet.
Und so stehen uns heute die Vorbilder von Menschen vor Augen, die ihrem Gewissen gefolgt sind und sich mit großer Zivilcourage für die Verfolgten eingesetzt haben. Die NS Machthaber haben ihre Körper verbrannt, und ihre Namen finden sich auf keiner Erinnerungstafel.
Zu den Männern und Frauen, die ihrem Gewissen gefolgt sind, gehörten auch Widerstandskämpfer aus dieser Region. Sie stehen stellvertretend für viele Andere aus unterschiedlichen Parteien, Verbänden und Organisationen. Sie alle verbindet der Einsatz für die Würde des Menschen, der sich jeder parteipolitischen Instrumentalisierung entzieht.
Exemplarisch erinnern möchte ich an Gottfried Könzgen aus Duisburg, an das Ehepaar Kreulich aus Kray und an den Arbeiterführer, Widerstandskämpfer und Glaubenszeugen Nikolaus Groß, den Namenspatron unserer Schule und den ersten Seligen des Bistums Essen.
Nikolaus Groß stammt aus Niederwenigern, das ist ja nur wenige Kilometer von Überruhr entfernt. Dieser junge Mann, der im Jahre 1898 geboren wurde, war einer von uns, kein General, kein Wirtschaftsboss oder Adeliger, sondern ein einfacher Bergarbeiter. Er wurde geboren in einem Haus am Domplatz von Niederwenigern, er wurde hingerichtet in Berlin-Plötzensee am 23. Januar 1945; Papst Johannes Paul II hat ihn am 07. Oktober 2001 zur Ehre der Altäre erhoben, und das Bistum Essen verehrt ihn in einer Kapelle unserer Kathedrale.
Damit hat unsere Kirche ihm, dessen Asche nach seiner Hinrichtung über die Rieselfelder von Berlin verstreut wurde, ein eigenes Ehrenmal gesetzt – in einem tausendjährigen Dom nicht weit von der Goldenen Madonna – gegen die Zerstörung der Erinnerung in einem Tausendjährigen Reich.
Es ist die einzige Kapelle in einem deutschen Dom, die an die Männer und Frauen des Deutschen Widerstands erinnert.
Nikolaus Groß hat den Beruf eines Bergmannes gewählt und in der Zeit des 1. Weltkriegs auf Zechen in Bochum und Essen gearbeitet. Gleichzeitig hat er sich in Abendkursen weitergebildet, um sich dann in den zwanziger Jahren in der katholischen Arbeitnehmerbewegung als Politiker und als Gewerkschaftssekretär für die Interessen seiner Kollegen einzusetzen. Im Jahre 1927 berief ihn Otto Müller, der Bundesvorsitzende der KAB in die Redaktion der Westdeutschen Arbeiterzeitung in Köln – gemeinsam mit Bernhard Letterhaus. Alle drei, Otto Müller, Bernhard Letterhaus und Nikolaus Groß sollten später dem Terror des Nationalsozialismus zum Opfer fallen.
Warum kamen die Männer der KAB in einen Konflikt mit dem Hitlerregime und warum werden sie in der Nachfolge der christlichen Märtyrer der ersten beiden Jahrhunderte im Dom von Xanten als Blutzeugen verehrt?
Nikolaus Groß hat als Redakteur sehr frühzeitig – im Alter von gerade 29 Jahren vor der antirepublikanischen, antireligiösen und totalitären Weltanschauung der NSDAP gewarnt. Verwurzelt in einem Wertesystem, das zutiefst von seinem christlichen Glauben geprägt war, verteidigte er die Demokratie von Weimar gegen ihre Feinde und entlarvte den Nationalsozialismus als Ersatzreligion. Wie die ersten Märtyrer der Christenheit so weigerte sich auch Nikolaus Groß, den neuen Götzen des germanischen Heidenkultes zu opfern.
Wer kann ermessen, wie viel Zivilcourage dazu gehört, wenn ein junger Redakteur den großen totalitären Weltanschauungen des 20. Jahrhunderts, dem Kommunismus und dem Nationalsozialismus entgegentritt – und dies schriftlich und nicht nur mündlich?
Nikolaus Groß war ein Mann mit Rückgrat, der gegen den Strom schwamm und der in den Fluten dieses Stroms ertrank. Gemeinsam mit seiner Frau Elisabeth und seinen sieben Kindern wurde er nach 1933 geächtet, ausgegrenzt, nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 verhaftet und hingerichtet. Noch aus dem Gefängnis in Berlin Tegel hat er mit gefesselten Händen die Briefe an seine Familie geschrieben, die seine Prinzipienfestigkeit und seine Glaubenstreue in eindrucksvoller Weise belegen. Diese Briefe werden im Domschatz des Bistums Essen aufbewahrt. Unser Altbischof Dr. Hubert Luthe bezeichnet sie als den größten Schatz des Bistums Essen.
Was würde Nikolaus Groß sagen, wenn er heute hier wäre? Eigentlich hat er sein Vermächtnis für seine Kinder- und Enkelkindergeneration schon am Vorabend des 20. Juli in folgenden Worten zusammengefasst. Er sagte: „Wenn wir heute nicht unser Leben einsetzen, wie sollen wir dann vor Gott und unserem Gewissen einmal bestehen?“ So spricht ein Familienvater, der um die tödliche Gefahr weiß, in einem gedachten Dialog heute mit seinen Enkelkindern. Wie könnte ich heute Euch als 110jähriger gegenübertreten, wenn ich in dieser Situation damals im Jahre 1944 nicht meinem Gewissen gefolgt wäre?
Liebe Mitbürger; auch wir werden im Jahre 2050 oder 2060 von unseren Enkeln gefragt werden, ob wir unsere Verantwortung wahrgenommen haben, indem wir für die Würde des Menschen und für den Frieden eingetreten sind. Werden wir bestehen können?
Nikolaus Groß und die Männer und Frauen des deutschen Widerstandes, die Opfer der Euthanasie im Franz-Sales Haus, unsere jüdischen Mitbürger, die nach der Zerstörung der Synagoge in die Konzentrationslager transportiert wurden, die gefallenen Soldaten und die Opfer des Krieges bei den Bombenangriffen auf Essen und nicht zuletzt die Namen der Menschen, die auf dieser Tafel verzeichnet sind – an sie alle erinnern wir an diesem Tag. Wenn wir ihr geistiges Erbe ernst nehmen und uns mit Zivilcourage für die Würde des Menschen einsetzen, dann – so bin ich überzeugt – werden wir es schaffen, zu verhindern, dass unsere Enkelkindern vor Ehrenmälern stehen, die es heute noch gar nicht gibt.